10. April 2021

Griechisch: „Grundsprache Europas“

Von Editorial Team

Bemerkungen zum übersetzerischen Werk von Günter Dietz (1930-2017)

Von Andrea Schellinger

Dass Odysseas Elytis 1979 den Nobelpreis für Literatur erhielt, kam für die internationale Literaturszene einigermaßen überraschend, war doch sein Name außerhalb Griechenlands letztlich nur Neogräzisten und griechenlandaffinen Kreisen vertraut, sein Hauptwerk „To Axion Esti“, von seinen Landsleuten als Manifest moderner Identität verehrt, im Ausland so gut wie nicht bekannt (erste engl. Übersetzung 1974). Mit einer Ausnahme: In Deutschland hatte schon zehn Jahre zuvor Günter Dietz eine Übersetzung publiziert; die zweisprachige Ausgabe war bereits 1969 im renommierten Hamburger Claassen-Verlag (heute Teil der Ullstein-Verlagsgruppe) erschienen. Der internationalen Auszeichnung folgte, wie in solchen Fällen üblich, eine Taschenbuchausgabe bei Fischer; 2001 gab der Berliner Elfenbein-Verlag eine vom Übersetzer neu bearbeitete Fassung heraus, die derzeit in der 4. Auflage vorliegt.

Im Brotberuf war Günter Dietz Gymnasiallehrer für Alte Sprachen und Deutsch. Geboren 1930 in Karlsruhe, hatte er in Freiburg i.Br. studiert und war mit einer Arbeit über Sallusts Briefe an Cäsar promoviert worden. 1958 trat er außerdem erstmals mit einem Gedichtband hervor (Rot und Schwarz in die Nacht. Gedichte 1955-1958). Diese frühe Lyrik („röchelnde Trümmer, / Kellergewimmer“) zeugt von den in der Geburtsstadt erlebten Bombennächten des Kindes und Jugendlichen. Dass die Verhältnisse, unter und in denen Menschen leben, potentiell immer brüchig sind, wurde dabei zur lebensleitenden Grunderfahrung. Dagegen setzte Dietz einen „neuen Mythos vom Menschen“, das „Preisen des Lichts“, das er „zuletzt an den Gedichten von Odysseas Elytis erfahren“ hatte.

Aus der Doppelexistenz des Altphilologen und Lyrikers sollte sich durch einen biografischen Zufall ein drittes Wirkungsfeld ergeben: 1958 begann er als Lehrer an der Deutschen Schule Athen, geholt von Helmut Flume, dem ersten Schulleiter nach der 1956 erfolgten Wiedereröffnung, selbst Übersetzer aus dem Griechischen. Im „Südland“ (so auch der Titel eines zwischen 1956 und 1970 entstandenen Gedichtzyklus, publiziert 2005) traf er auf den physischen Raum und die gegenwärtige Verfassung einer geistigen Tradition, der er sich durch Veranlagung, Neigung und Studium verbunden fühlte. Die für ihn typische vorurteilsfreie Offenheit und menschenfreundliche Neugier, der jeder narzisstische Zug wesensfremd war, eröffneten ihm den Zugang zur Athener Realität und deren produktive Anverwandlung. Rasch kam Dietz in seinen griechischen und Athener Jahren (1958 bis 1964) in Berührung mit moderner griechischer Literatur und deren Exponenten. Er begegnete dem „Licht“ und seiner „Preisung“ in der Lyrik von Odysseas Elytis und erfuhr nun die griechische Sprache, die – wie er immer wieder betonte: einmalig in Europa – seit mehr als 3000 Jahren geschrieben und gesprochen wird, in ihrem Hier und Jetzt. In diesem „Südland“ ging bei ihm eine Art „Katharsis“ vonstatten, die sich heilend auf die Wunden der Vergangenheit auswirkte. In intensiven Gesprächen mit Elytis kam damals ein geistiger Dialog in Gang, der Dietz´ eigenes dichterisches Werk maßgeblich und nachhaltig geprägt hat.

Auch nach dem Weggang aus Athen zurück ans Karlsruher Bismarckgymnasium, diesmal als Lehrer, entstanden Übersetzungen, um moderne griechische Lyriker im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen. Zunächst erschien eine zweisprachige Ausgabe der Sieben nächtlichen Siebenzeiler (1966) von Elytis, 1969 dann To Axion Esti – Gepriesen sei sowie, ebenfalls noch in den 1960ern, Sechzehn Haikus von Giorgos Seferis, aber auch eine Auswahl aus den Zeugenaussagen von Jannis Ritsos, der Dietz in einer handschriftlichen Widmung als „meinen Übersetzer“ bezeichnete. Mit Ritsos korrespondierte er während dessen Inhaftierung im Lager auf der Insel Leros während der Obristendiktatur, teils über das Rote Kreuz, teils über den damaligen Programmreferenten des Athener Goethe-Instituts Johannes Weissert. Es ging dabei um eine Gesamtausgabe der (ohne die später entstandene dritte Reihe) 190 Zeugenaussagen, an der Dietz Ende der 1960er für eine mit dem Claassen-Verlag vereinbarte Publikation saß. Doch nach zwei Jahren Arbeit und mühsamem Briefwechsel mit dem Autor zog sich der Verlagsleiter zurück, auf mangelnde Verkaufschancen verweisend. Dietz reagierte im September 1970 „bestürzt“: „Warum haben Sie – der Verlag – nicht früher abgesagt? Die Aktualität von Ritsos nimmt nicht ab, sondern zu. Wie lange der Dichter noch lebt, weiß niemand […] Bei rechter Überlegung muss ich in Ihrer Ablehnung eine Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Autor und dem Übersetzer erblicken, die durch kein Äquivalent aufgehoben oder gemildert wird.“ An das Versprechen, das er Ritsos gegeben hatte („ich schulde Ritsos etwas“), hielt Dietz sich über dessen Tod hinaus: 2009 erschien, in Zusammenarbeit mit der Autorin dieser Zeilen, zum 100. Geburtstag des Dichters ein Band mit den drei Gedichtreihen der „Martyries – Zeugenaussagen“, ergänzt von ausführlichen Anmerkungen und einem Nachwort.

Für seine ersten Ritsos-Übertragungen wurde Dietz bis in die 1980er Jahre stark kritisiert. Man warf ihm „Entpolitisierung“ und „Entidiologisierung“ eines Lyrikers vor, der sozialistischen Ideen nahestand, und zwar aus (gegenläufigen) ideologischen Gründen. Maria Biza hat in einer eingehenden Untersuchung über den „Deutsch-griechischen Lyriktransfer im 20. Jahrhundert“ (https://edoc.ub.uni-muenchen.de/20772/1/Biza_Maria.pdf)

diese Unterstellung zurechtgerückt: Das Interesse von Dietz am Werk von Ritsos sei weder ideologisch motiviert gewesen noch habe es etwas mit der Protestbewegung gegen die Junta zu tun gehabt. Dietz‘ Interesse an dem Dichter, so die Neogräzistin, seien ganz woanders zu suchen, etwa bei Ritsos’ Verbundenheit mit der griechischen Antike. Es sei sicherlich kein Zufall, dass der Altphilologe Dietz als erster Übersetzer Ritsos eine Nähe zur griechischen Tragödie nachsagte und dass er darüber hinaus den Helden Homers sowie der antiken Tragödie die Helden von Ritsos entgegenstellte: Bei Ritsos, wie Dietz herausstellte, fand eine Umkehrung des Heroischen statt, da die Helden «zu einfachen anonymen Menschen geworden sind, die in ihrem schweren Dasein vom Absoluten, das sie heimlich begehren, plötzlich getroffen sind».“ (Biza, 168).

Abgesehen von einem einzigen Prosatext, dem Roman Schatten haben keine Schmerzen (Και ιδού ίππος χλωρός) von Tatiana Gritsi-Milliex (Claassen, 1968) publizierte Dietz seit 1963 regelmäßig Übersetzungen moderner griechischer Lyrik (Solomos, Palamas, Kavafis, Vrettakos, Mavilis, Seferis und immer wieder Ritsos und Elytis in literarischen Zeitschriften: Merkur, Literatur und Kritik, die horen, hellas, Hellenika, Sinn und Form, Akzente). Beeindruckend ist die Vielfalt der Autoren in der Hommage an die moderne griechische Lyrik, die Dietz für das Griechenland-Heft der Literaturzeitschrift die horen Nr. 87 (1972) zusammengestellt, übersetzt und mit einer „Kurzen Einführung in die neugriechische Lyrik“ ergänzt hatte. Ein maschinenschriftliches Konvolut „Neugriechische Lyrik“ aus dem Nachlass enthält manche dieser Übersetzungen, neben manchem Nichtpublizierten. Im Vorwort, datiert am 10. Juni 1964 in Athen, heißt es: „Die Freude an der neugriechischen Sprache, am Übersetzen und Nachgestalten, zugleich aber auch die Liebe zu den Formen und Werten der neugriechischen Kultur sowie das allgemeine Interesse an den lyrischen Ausdrucksformen menschlicher Grundsituationen in einem Land, das dem Übersetzer sechs Jahre lang eine zweite Heimat war [… ] sind einige der Gründe für das Zustandekommen der vorliegenden Auswahl.”

Zurück in Karlsruhe, begann ab 1964 – parallel zu den Übersetzungen und dem Brotberuf – ein Weg radikaler Selbsterfahrung und Selbstreflexion. Man kann ihn nachvollziehen anhand der Gedichte aus 50 Jahren im Band „Wundpsalmen“ (Elfenbein-Verlag, 2005), aber auch in zahlreichen interdisziplinär kontextualisierten Untersuchungen und Essays über die Aktualität des Mythos und des antiken Denkens für die Gegenwart. Weit über altphilologische oder sprachwissenschaftliche Fachgrenzen hinaus gehen etwa Vorträge und Aufsätze, die unter dem Titel „Menschenwürde bei Homer“, „Grenzsituationen und neues Ethos. Von Homers Weltsicht zum modernen Menschenbild“ (2005) und „Verzweiflung als kreative Herausforderung“ (2008) erschienen sind, aber auch vieles andere.

Dietz ging es keineswegs um die Idealisierung des Landes, das von Philhellenen mit der Seele gesucht wird. So thematisierte er etwa in seiner Lyrik das in den Jahren nach 1945 verbreitete deutsche Beschweigen der Kriegs- und Besatzungsjahre 1941-44, die ein zerstörtes Griechenland hinterlassen hatten: „Du kommst mit der Wahrheit / besser zurecht / wenn du vom Wetter redest / von München schweigst, Berlin / von Kreta und Stalingrad“. Während der Militärdiktatur (1967-1974) positionierte er sich mit einer Äußerung über die „elementare Bedrohung der griechischen Freiheit, seit das Obristenregime das Recht der freien Meinungsäußerung, des freien Kulturschaffens und das Recht auf sozialen Fortschritt ignoriert oder in das Gegenteil verkehrt.“

Übersetzung war für Dietz nicht einfach nur Transfer von einer Sprache in die andere nach allen Regeln der Kunst, die er uns Schülern mit der Faustregel „so wörtlich wie möglich, so frei wie nötig“ nahezubringen versuchte; sein Augenmerk war vielmehr auf die kulturelle und geistige Kontextualisierung gerichtet – parallel zur Spracharbeit und mit ihr verwoben. So sind sämtliche Übertragungen von Vor- bzw. Nachworten und interpretativen Texten begleitet, die neben der Biobibliografie des jeweiligen Autors erklärende, Bezüge stiftende Anmerkungen und vielfach auch Details zur jeweiligen Übersetzungshistorie enthielten.

In der Dreifach-Identität als Philologe, Lyriker und Übersetzer maß Dietz

dem Mythos in Dichtung und Philosophie eine fundamentale, ja existentielle Bedeutung für unsere Gegenwart bei. Elemente dieses „neuen Mythos vom Menschen“ identifizierte er eben bei den Hauptvertretern der modernen griechischen Lyrik, mit denen er sich befasst hat. Dietz sah sich – in der Rolle des Übersetzers so gut wie des lehrenden und publizierenden Altphilologen – als Vermittler der griechischen Kultur; sie stellt seinem Verständnis nach von der Antike bis in die Moderne ein Kontinuum dar, wobei sie Änderungen unterzogen ist, „wie alles, was atmet” (Seferis).

Ab 1972 bis zu seiner Pensionierung 1993 war Günter Dietz Leiter des traditionsreichen Kurfürst-Friedrich-Gymnasiums in Heidelberg. Nach seiner Pensionierung widmete er sich philologischen, kulturphilosophischen und ethischen Themen sowie den Übersetzungen, hielt Vorträge, führte Lesungen durch und gab unter dem bereits erwähnten Titel „Wundpsalmen“ eine Auswahl eigener, zwischen 1955 und 2005 entstandener Gedichte heraus. 2005 erhielt er den bisher letzten Deutsch-Griechischen Übersetzerpreis, ausgerichtet vom Nationalen Buchzentrum Griechenlands und dem Athener Goethe-Institut. Bis zuletzt war er mit Vorarbeiten zu einer Übersetzung autobiografischer Prosa von Odysseas Elytis befasst. Im April diesen Jahres wäre Günter Dietz 90 geworden.

 

Nachbemerkungen

Sein ehemaliger Schüler Wolfgang Rihm erwähnt in einem Interview:

„Ich erinnere mich an meinen Griechischlehrer, Günter Dietz, der betonte immer, dass jeder sein Maß selber finden müsse, dass er aber das Maß nur erfahre, indem er es einmal überschreite. Das, auf die Kunst bezogen, ist ein goldener Weg.“ (ZEITmagazin 7/2015)

Sein ehemaliger Kollege Dr. Martin Kölle schreibt im Nachruf:

„…feine Menschlichkeit, die der Kollege, der Schüler in der Begegnung mit Günther Dietz erfuhren: Er nahm nicht nur die Texte, sondern auch sein Gegenüber im Zuhören und Sprechen ganz wahr, ganz ernst.“

 

Günter Dietz (in memoriam odysseas elytis)

Oxópetra, legendär

drunten
am Jenseitsstein
wenn du für uns
wieder verhandelst
die Überfahrt
einbringst
die durchglühten
diamantenen Worte
Woge für Woge
hartnäckig
aus den tieferen Tresoren
(keiner ist reicher)
seh auch ich
die Barke erneut
ohne uns schaukeln
du verströmst
deine Töne
ins Zwischendunkel
durchpflügte Pfade
wo wir nächstens
lautlos
verschwimmen

Οξώπετρα, θρυλικό

(είς μνήμην Όδυσσέα Έλύτη)

Κάτω εκεί
στην πέτρα του επέκεινα
όταν ξανά για μας
θα διαπραγματευτείς
το πέρασμα αντίπερα
όταν κομίσεις
τις διάπυρες
αδαμάντιες λέξεις
κύμα το κύμα
πεισματικά
από τους θησαυρούς τους πιό βαθιούς
(κανείς πλουσιότερος)
τότε βλέπω και εγώ
ξανά τη βάρκα
δίχως εμάς να τραμπαλίζεται
τους ήχους σου
σκορπάς
στο ενδιάμεσο σκότος
οργωμένα μονοπάτια
όπου σε λίγο
άηχα
θα σβήνουμε

Μετάφραση: ΜαρίαΤοπάλη

 

Giorgos Seferis

Abkehr

Am verborgenen Küstenrund,
keusch der Strand und taubenzart,
kam uns Durst zur Mittagsstund´,
doch das Wasser schmeckte fad.

In den goldnen Dünensand
malten wir geliebte Namen;
welch wunderbare Brisen kamen,
und die Schrift verschwand.

Wie mutig, stolz und gierig rege
hat unser Leben angefangen:
Am Irrtum haben wir gehangen!
Nun gehn wir andere Wege.

Übersetzung: Günter Dietz

Γιώργου Σεφέρη

«Άρνηση»

 Στο περιγιάλι το κρυφό
κι άσπρο σαν περιστέρι
διψάσαμε το μεσημέρι·
μα το νερό γλυφό.

Πάνω στην άμμο την ξανθή
γράψαμε τ’ όνομά της·
ωραία που φύσηξεν ο μπάτης
και σβήστηκε η γραφή.

Mε τί καρδιά, με τί πνοή,
τι πόθους και τί πάθος,
πήραμε τη ζωή μας· λάθος!
κι αλλάξαμε ζωή.

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Mehr zur Bibliografie von Günter Dietz im Germersheimer Übersetzerlexikon (uelex.de).

Aris Diktaios übersetzte 1964 sieben Gedichte von Günter Dietz für die Zeitschrift Nea Estia (Heft 76, S. 1012-1014), weitere dreizehn Übertragungen in der Zeitschrift Poiitiki (6/2010, S. 108) stammen von Maria Topali.