9. Juli 2025

Wieviel Erinnerung braucht Demokratie?

Von editorial team
Zum 80. Jahrestag nach Ende des 2. Weltkriegs

von Norbert Lammert

 

Anlässlich 80 Jahre Kriegsende und 20 Jahre Holocaust-Denkmal fand im April in Berlin eine Diskussion über die „Zukunft der Erinnerung“ statt. In seinem Grußwort hob Prof. Dr. Lammert, Bundestagspräsident a.D., hervor, dass laut einer aktuellen Studie weniger als die Hälfte (42,5%) der Menschen in Deutschland fänden, dass Erinnerungskultur eine wichtige Sache sei und dass 38% gar einen Schlussstrich unter der Vergangenheit befürworten. Vor diesem Hintergrund halten wir den folgenden Beitrag für wichtig, den Prof. Lammert dankenswerterweise unserer Zeitschrift “exantas” zur Verfügung gestellt hat und der die Kerngedanken des Grußworts zur Bedeutung der Erinnerungskultur heute wiedergibt.

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Wieviel Erinnerung braucht Demokratie? Und wer ist dafür eigentlich zuständig? Und wie misst man das, was da gebraucht wird? Und wieviel von dem, was gebraucht würde, wird tatsächlich beigetragen – oder umgekehrt: Wieviel fehlt offenkundig und an welcher Stelle fehlt es, und durch wen müsste es beigetragen werden?

Die Politik könnte es sich einfach machen, wenn sie dem hochangesehenen englischen Historiker Eric Hobsbawm folgen würde. Für ihn hat Geschichte in Politikerhand nichts zu suchen. „Die beste Form der Vergangenheitsbewältigung“, so hat er einmal erklärt, sei, „die Vergangenheit hinter sich, und die Geschichtsschreibung ganz den Historikern zu überlassen“. Diese prägnante Bemerkung bestätigt mindestens die Eric Hobsbawm nachgesagte Freude an einer auffälligen Pointe, lässt aber möglicherweise doch eine Unterschätzung der fundamentalen Bedeutung von Vergangenheitsbezügen nicht nur im Allgemeinen, sondern insbesondere für die Konstituierung und Legitimierung politischer Ordnungen erkennen. Staatliches Handeln vollzieht sich immer in historischen Kontexten, ausnahmslos. Und die Wahrnehmung staatlichen Handelns vollzieht sich zwar nicht immer, aber doch vergleichsweise häufig und bei manchen Staaten noch häufiger als bei anderen auch in historischen Kontexten – was für eine sehr differenzierte Behandlung dieses Themas spricht, schon gar aus deutscher Perspektive. Die Identität einer Person wird wesentlich durch ihre Herkunft bestimmt und für die Identität von Ländern, von Völkern und von Nationen gilt das in sehr ähnlicher Weise. Sich die Identität eines Landes und die mehr oder weniger ausgeprägte Identifikation seiner Bürgerinnen und Bürger mit dem eigenen Land ohne die Herkunft vorzustellen, ist eine ziemlich theoretische Übung und nicht sehr wirklichkeitsnah.

Die Gegenwart ist immer nicht nur, aber doch wesentlich das Produkt der Vergangenheit; und die Zukunft ist nur schwer zu bewältigen, ohne Bewusstsein von dem, was früher war – überzeugend gelingt das jedenfalls selten. Noch mehr als Personen stehen Nationen unter Beobachtung ihrer Zeitgenossen. Und wenn das für irgendeine Nation ganz sicher gilt, dann für unsere. Dass dies für die Deutschen in der Wahrnehmung ihrer Nachbarn ein geradezu prägender Aspekt des Verhältnisses ist, das ist hinreichend häufig und zu Recht beschrieben worden, so dass es keiner weiteren Erläuterung bedarf. Aus der Art und Weise, wie sich eine Gesellschaft und ein Staat zur eigenen Geschichte verhalten, lassen sich durchaus beachtliche Rückschlüsse auf das jeweilige Selbstverständnis ziehen. Insofern reden wir, wenn wir über Erinnerung im Allgemeinen und Erinnerungskultur im Besonderen sprechen, direkt und indirekt immer auch über staatliche Verantwortung.

Zu meinem Kulturverständnis gehört, dass der Staat nicht für Kultur zuständig ist, wohl aber für die Bedingungen, unter denen sie stattfindet – was nicht dasselbe ist. Welche Bücher in einem Land geschrieben werden, welche Theaterstücke wie inszeniert werden, welche Bilder wie gemalt werden, welche Skulpturen an welchen prominenten Plätzen stehen, geht den Staat nichts an, außer, dass er möglich machen sollte, dass all dies stattfinden kann, wenn er denn ein Kulturstaat sein will. Nach diesem Verständnis gibt es eine inhaltliche Kompetenz des Staates für Kunst und Kultur ausdrücklich nicht, die ich allerdings für einen einzigen Bereich der Kulturpolitik ausdrücklich reklamiere: die Erinnerungskultur!

Dass der Staat sich aus diesem Teil von gesellschaftlichem Nachdenken, Entwickeln, Weiterentwickeln des eigenen Selbstverständnisses heraushalten könnte, halte ich weder für wirklichkeitsnah noch für durchdacht. Hier kann er sich nicht allein auf die zu sichernden Rahmenbedingungen zurückziehen, sondern er muss sich zur Geschichte des eigenen Staates, des eigenen Landes verhalten und in der Art und Weise, in der er das tut oder auch lässt, prägt er die Erinnerungskultur einer Gesellschaft. Ich räume ein, dass der Begriff „Erinnerungskultur“ genauso problematisch ist wie fast alle ähnlichen Begriffe, so habe ich auch Zweifel am Begriff „Geschichtspolitik“ – ein Begriff, den ich noch problematischer finde als den Begriff „Erinnerungskultur“, denn weder ist Politik für Geschichtsschreibung zuständig noch Geschichtsschreibung für Politik. Beide folgen ihren jeweils eigenen Ansprüchen und diese sind ganz sicher nicht deckungsgleich. Allerdings hat Geschichte ebenso wenig nur mit Vergangenheit zu tun, wie Politik nur auf die Bewältigung der Gegenwart reduziert werden darf. Wesentlicher Maßstab für ihre Relevanz ist der Beitrag, den sie jeweils zur Bewältigung der Zukunft leisten. Deswegen müsste vielleicht der noch vollständigere Titel dieses gemeinsamen Nachdenkens lauten: Wieviel Erinnerung braucht die Zukunft einer Demokratie?

 

Tatsächlich beobachten wir seit geraumer Zeit sowohl regelmäßige Hinweise auf ein vermeintlich neues Interesse an der Geschichte als auch regelmäßige Klagen über einen erschreckenden Mangel an historischen Kenntnissen. Für beides gibt es Belege. Im Film werden historische Stoffe wiederentdeckt, selbst im Fernsehen hat sich für eine bestimmte Art der erzählenden Dokumentation historischer Ereignisse der wiederum hübsche Begriff des „Histotainments“ eingeschlichen, der offenkundig diejenigen, die vor dem Begriff Geschichte reflexhaft scheuen könnten, durch die Andeutung von Unterhaltung bei Laune halten soll. Aber ich bin ein bisschen zögerlich, wenn ich mit einer wiederkehrenden Regelmäßigkeit von vermeintlich neuem Interesse an der Geschichte lese, weil ich den Eindruck habe, dass die Wahrnehmung dieses Interesses vielleicht neuer ist als das Interesse selbst. Denn so richtig der Hinweis auf die erstaunliche Literatur, die erstaunliche Konjunktur von Ausstellungen, Filmen und anderen einschlägigen Darstellungsformen ist, so einschlägig sind leider auch die Untersuchungen, die das historische Wissen oder Nichtwissen nachwachsender Generationen dokumentieren. Hinter der oberflächlichen Beschäftigung mit Personen, Sachverhalten und Ereignissen lässt sich jedenfalls nicht immer die vertiefte Auseinandersetzung mit Abläufen, Entwicklungen, Ereignissen, deren Ursachen und insbesondere auf deren Wirkungen finden.

 

Dass die jüngere deutsche Geschichte häufig eher ein Bedürfnis nach Distanz gegenüber dem eigenen Land und der eigenen Geschichte erzeugt als einen spontanen Wunsch nach Identifikation, dafür wird man mit Blick auf den besonderen Verlauf der deutschen Geschichte mindestens Verständnis aufbringen müssen – jedenfalls erklärt es fast hinreichend den in den allermeisten unserer Nachbarländer sehr viel unkomplizierteren Bezug der Menschen zur eigenen Geschichte, als er in Deutschland zu beobachten ist.

 

Natürlich muss im Zentrum deutscher Gedenkpolitik die doppelte Diktaturerfahrung im 20. Jahrhundert stehen, die zur kollektiven Erinnerung aller Deutschen gehört. Im antitotalitären Grundkonsens unserer Republik hat die Aufarbeitung beider Systeme mit ihren jeweiligen Gemeinsamkeiten und Unterschieden eine erhebliche, wiederum politische Bedeutung. Mit dem im Jahr 2008 verabschiedeten Gedenkstättenkonzept des Bundes – das es übrigens gar nicht geben müsste, wenn es eine staatliche Verantwortung für dieses Thema nicht gäbe – soll die über die Jahre entwickelte und von staatlichen wie zivilgesellschaftlichen Institutionen getragene Erinnerungs- und Gedenkkultur zur NS-Zeit wie zur zweiten deutschen Diktatur gestärkt werden.

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Die über 75-jährige Geschichte der Bundesrepublik ist nicht nur, aber auch ein bemerkenswerter, jahrzehntelanger Lernprozess im Umgang mit der eigenen Geschichte und ihrer Aufarbeitung, der übrigens auch keineswegs geradlinig erfolgt ist. Aber dass es nicht nur in Europa kein zweites Land gibt, das so viel Grund hat wie wir, sich mit der eigenen Geschichte auseinander zu setzen, sondern dass es tatsächlich auch kein zweites Land gibt, das sich so gründlich wie wir dieser eigenen Einsicht gestellt und unterzogen hat, das gehört wiederum auch zu den ermutigenden Erfahrungen und schlägt sich übrigens auch in der Wahrnehmung Deutschlands durch unsere Nachbarn nieder. Dass dieses Land überhaupt wieder als gleichberechtigtes Land in der europäischen Völkerfamilie angenommen und wahrgenommen wird, und darüber hinaus mit Blick auf unsere Geschichte erstaunlicherweise von manchen inzwischen schon fast für das Modell der Entwicklung einer modernen Staats- und Gesellschaftsordnung gehalten wird, ist ohne die Wahrnehmung unserer konsequenten, gründlichen und im Wortsinn rücksichtslosen Befassung mit der eigenen Geschichte nicht erklärbar.

 

Nun gehört es zu den besonders delikaten Aufgaben sowohl für Historiker wie für staatliche Institutionen, in ihrem jeweiligen Umgang mit historischen Entwicklungen und Ereignissen weder den Beitrag zu übersehen, den Persönlichkeiten für diese Entwicklungen und Ereignisse beigetragen haben, noch die großen Entwicklungslinien der Landesgeschichte hinter solchen Köpfen verschwinden zu lassen. Denn Geschichte ist immer beides. Sie lässt sich nie von den handelnden Personen lösen, aber sie lässt sich durch das jeweils handelnde Personal allein auch nie hinreichend erklären.

 

Freiheitskämpfe verdienen nicht erst dann Respekt, wenn sie erfolgreich gewesen sind, sondern dann, wenn sie stattfinden. Und gerade deswegen ist Erinnerungskultur mehr als die Erinnerung an herausragende Persönlichkeiten – oder umgekehrt ist eine der wichtigsten Aufgaben der Erinnerungskultur, an Persönlichkeiten zu erinnern, an die sich niemand mehr erinnert, ohne die es diejenigen, an die wir uns erinnern, aber sicher nicht gegeben hätte.

 

Wie verhalten wir uns zur eigenen Geschichte? Wie identifizieren wir die Markierungspunkte, die erklären helfen, warum dieses Land jetzt so ist, wie es ist? Was ist uns davon wichtig und wie schlägt sich das, was wir für wichtig halten, in welcher Art von Strukturen, Institutionen, meinetwegen auch in einzelnen Denkmälern nieder?

 

Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat in einem Interview einmal gesagt: „Wenn ich bei den Friedensgesprächen etwas zu sagen hätte, würde ich die Tontechniker anweisen, die Mikrofone abzuschalten, sobald irgendeine der Verhandlungsparteien anfängt, von der Vergangenheit zu reden. Sie werden dafür bezahlt, Lösungen für die Gegenwart und für die Zukunft zu finden.“ Das darf ein Schriftsteller sagen, aber es funktioniert weder im Nahen Osten noch in Europa. Weder Deutsche noch Polen, weder Griechen noch Türken, weder Israelis noch Palästinenser können ihre Zukunft unter Verdrängung oder Leugnung ihrer gemeinsamen Vergangenheit gestalten. Und je unversöhnlicher die Verhältnisse wurden und je länger sie andauern, desto zutreffender ist diese Lebensweisheit: Das Geheimnis der Versöhnung ist Erinnerung, nicht das Vergessen, nicht das Verdrängen dessen, was stattgefunden hat, sondern das Aufarbeiten dessen, was stattgefunden hat. Der bewusste, nicht selten schmerzhafte Prozess des Sich-Verhaltens zu dem, was stattgefunden hat, ist die unverzichtbare Voraussetzung für eine Aussicht auf eine gemeinsame Bewältigung gemeinsamer Zukunftsherausforderungen.

 

Nun sind die Erfahrungen, die wir als Menschen, wie als Länder, Nationen oder Staaten gemacht haben, nicht identisch – jeder hat seine Erfahrungen gesammelt und der Hinweis auch und gerade von Historikern, dass es eine gemeinsame europäische Geschichtserzählung deswegen nicht gebe und auch nur schwer geben könne, weil hier doch ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht wurden, ist keineswegs von der Hand zu weisen. Aber der richtige Hinweis auf die unterschiedlichen Erfahrungen ist zugleich eine schlechte Begründung für die Verweigerung eines gemeinsamen Aufarbeitens unterschiedlicher Erfahrungen.

 

Wieviel Erinnerung braucht Demokratie? Braucht eigentlich nur Demokratie Erinnerung, braucht sie mehr davon als andere politische Systeme? Dazu kann ich keine abschließende Auskunft geben, sondern zunächst nur die starke Vermutung äußern, dass die Demokratie tatsächlich mehr als andere Staatsformen der ständigen Selbstvergewisserung bedarf, weil sie andere Stützen der Stabilität, über welche die autoritären Systeme reichlich verfügen, nicht nur nicht im Repertoire führt, sondern ausdrücklich aus dem Repertoire verbannt hat.

 

Kann es überhaupt ein Zuviel an Erinnerung geben? Ja, ich glaube durchaus. Es gibt auch ein Risiko der Vergangenheitsfixierung, der Realitätsflucht, auch dafür gibt es Beispiele. Trotzdem glaube ich, dass unter Berücksichtigung der tatsächlich stattfindenden Entwicklungen, Neigungen und Reflexe das Risiko größer ist, zu wenig in diese Befassung mit der eigenen Geschichte und ihre Lebendigkeit im öffentlichen Bewusstsein zu investieren. Denn der Preis der Geschichtsvergessenheit, des Verlustes von Erinnerung oder des Verdrängens ist Kopflosigkeit. Eine Gesellschaft, die sich nicht erinnern will oder nicht erinnern kann, ein Staat, der so tut, als habe er mit seiner eigenen Vergangenheit nichts zu tun, enthauptet sich gewissermaßen, weil er sich der Mittel beraubt, die er zur eigenen Selbstvergewisserung braucht.

 

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Prof. Dr. Norbert Lammert, CDU, war von 1980 bis 2017 Abgeordneter des Deutschen Bundestags und von 2005 Präsident des Deutschen Bundestags. Seit 2018 ist er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.