12. Oktober 2023

Antike Funde an der Station Venizelou der U-Bahn Thessaloniki

Von editorial team

Antike Funde an der Station Venizelou der U-Bahn Thessaloniki

Eine verlorene Chance für die Stadt

 

Kleopatra Theologidou

 

Einführung

Der Bau der Hauptlinie der U-Bahn Thessaloniki mit einem Kostenansatz in Höhe von 1.534 Millionen Euro begann im Jahr 2006. Die Linie mit einer Gesamtlänge von 9,6 km startet in Nea Elvetia und endet am neuen Bahnhof. Sie umfasst 13 Stationen. Der Teil innerhalb der Stadtmauern mit zwei Stationen – Aghia Sofia und Venizelou – verläuft unter der Egnatia-Straße, wo die archäologischen Überreste aus hellenistischer Zeit bis in neuere Zeiten häufig sind. Die Ausgrabungsarbeiten an beiden Stationen haben eindrucksvolle Funde ans Licht gebracht, die wertvolle Informationen über das weltliche Thessaloniki und dessen stadtplanerische Organisation liefern.

Insbesondere an der Station Venizelou wurde ein beeindruckendes Ensemble mit einer reichen Stratigraphie vom 4. bis zum 9. Jahrhundert u. Z. entdeckt. Obwohl die Möglichkeit bestand, den Bahnhof durch eine unterirdische Bauweise zu errichten, was die Bewahrung der antiken Überreste vor Ort während der Bauphase erlaubt hätte, hat sich der Bauherr, die Attiko Metro AG, nach vielem Hin und Her für den Bau mit offener Baugrube entschieden, eine Methode, die die Herauslösung und Entfernung der antiken Überreste voraussetzt. Dieser Entscheidung hat sich auch die gegenwärtige Leitung des Kulturministeriums angeschlossen, das trotz der Gegenreaktionen und des internationalen Aufschreis die Entfernung der antiken Überreste zuließ. Dadurch hat sie Thessaloniki und der internationalen Gemeinschaft ein wertvolles archäologisches Ensemble vorenthalten, ein einmaliges materielles Zeugnis der Struktur und Organisation der spätrömischen und byzantinischen Stadt. Gleichzeitig hat sie die Stadt einer kulturellen Ressource beraubt, die in Kombination mit ihrem Reichtum an Denkmälern entscheidend zur wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Entwicklung hätte beitragen können.

 

Antike Überreste am U-Bahnhof Venizelou. Eine einzigartige und unerwartete Entdeckung (1)

Die Ausgrabung am U-Bahnhof Venizelou wurde 2012 abgeschlossen. Auf einer Fläche von 1.512 qm wurden einzigartige Zeugnisse der Stadtlandschaft Thessalonikis von den spätrömischen bis zu den mittelbyzantinischen Jahren entdeckt, wobei das 4., 6. und 9. Jahrhundert Zeiten wichtiger Änderungen der stadtplanerischen Organisation und der Entwicklung waren.

Die zentrale Straßenachse der spätrömischen Epoche, der Decumanus Maximus, die Mittelstraße der byzantinischen Jahre, wurde auf einer Länge von 77 m mit einer leichten Abweichung genau unter der heutigen Odos Egnatia in hervorragendem Erhaltungszustand entdeckt. Es handelt sich um eine marmorgepflasterte Straße von 4,85 m Breite, die im 6. Jahrhundert verbreitert und auf ihrem größten Teil Richtung Osten mit großen rechteckigen Platten gepflastert wird. Der Decumanus Maximus reichte von Stadtmauer zu Stadtmauer, Richtung Osten zum Kassandreotischen- und nach Westen zum Goldenen Tor. Die senkrecht dazu verlaufende Straße, der Cardo, unter der heutigen Odos Venizelou war ebenfalls mit Marmor gepflastert und wurde auf einer Länge von 20 m freigelegt. Sie war eine zentrale Straßenachse, die vom Verwaltungszentrum nach Norden bis zu der Stadtmauer verlief und Richtung Süden am Hafen von Konstantin dem Großen endete. Ein Monumentalbau, dem Galerius-Bogen vergleichbar, mit einem eindrucksvollen Tetrapylon darin unterstrich die Kreuzung der beiden zentralen Straßenachsen.

Südlich des Decumanus Maximus wurde ein Teil eines rechtwinkligen marmorgepflasterten Platzes auf einer Fläche von 340 m entdeckt, dessen Gesamtumfang auf 1.300 qm geschätzt wird. Straßen und Platz waren umgeben von säulengestützten Wandelhallen. Es wurden ebenfalls ein luxuriöses Gebäude aus dem 6. Jahrhundert und längs der Straßen eine Fülle von Werkstätten und Geschäften von Gold- und Silberschmieden gefunden, die nach dem 7. Jahrhundert einen Teil der Mittelstraße bedeckten und die Stadtlandschaft veränderten, indem bauliche Inseln zu Lasten des öffentlichen Raumes zunahmen. Beeindruckend sind auch die Bauwerke zur Wasserversorgung und Entsorgung durch gemauerte Kanäle.

Entsprechend reichhaltig waren auch die Funde am U-Bahnhof Aghia Sofia, wo ebenfalls der Decumanus Maximus auf einer Länge von 70 m entdeckt wurde, der sich mit einem Cardo unter der Odos Platonos kreuzt und von zwei marmorgepflasterten Plätzen umgeben ist, einem S-förmigen im Norden und einem kreisförmigen im Süden. Die Bedeutung dieser Straße, die vorwiegend dem Handel diente, ist offensichtlich, eine Nutzung, die sich bis heute erhalten hat, ebenso wie die Gold- und Silberschmiedwerkstätten im Bereich der Odos Venizelou.

Diese archäologischen Überreste zeigen elegant die Verbindung Thessalonikis mit Rom und Konstantinopel und die gemeinsamen Charakteristika der Stadtplanung. Sie beweisen ebenfalls, dass Thessaloniki eine wirtschaftlich kraftvolle Stadt war, die einzige im griechischen Raum, die viele Jahrhunderte lang florierte.

 

Chronik eines Verbrechens

Die antiken Funde am U-Bahnhof Venizelou haben viel Hin und Her und Wechselfälle erlebt. Es begann mit der Ministerweisung, die antiken Überreste zu entfernen und in die Kaserne Pavlos Melas zu verbringen. Es folgte eine neue Weisung, die Überreste zu entfernen und nach Abschluss der Bauarbeiten für den U-Bahnhof wieder zu installieren, gefolgt von einer weiteren Weisung mit der idealen Lösung, nämlich den Bahnhof zu bauen, wobei die antiken Funde vor Ort verbleiben. Die entsprechende Planung wurde 2017 gebilligt und ihre allmähliche Umsetzung begann mit der zeitlichen Vorgabe, dass der Betrieb der Hauptlinie mit ihren 12 Stationen bis Ende 2020 fertig sein sollte und die Station Venizelou später einbezogen würde.

Im September 2019, während der laufenden Bauarbeiten und noch bevor die neue Leitung der Attiko Metro AG ihre Funktion übernimmt, verkündet Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis auf der Internationalen Messe in Thessaloniki, dass die Bauweise des U-Bahnhofs mit offener Baugrube erfolgen werde, d. h., dass die Funde entfernt und später wieder integriert würden. Das Datum für den Abschluss der Bauarbeiten und den Betrieb der Hauptlinie mit ihren dreizehn Stationen verschiebt er auf März 2023.

Es folgte der abgestimmte Versuch der neuen Leitung von Attiko Metro AG und der politischen Führung des Kulturministeriums zu beweisen, dass der Bau des Bahnhofs unter Verbleib der Funde vor Ort nicht machbar sei. Sie behaupteten, dass es keine entsprechende Studie gäbe – was sich als glatte Lüge herausstellte – und dass der Bau des Bahnhofs ohne die Entfernung der Funde technisch nicht machbar, unwirtschaftlich, außerordentlich zeitraubend und während der Bauphase heikel für die Funde und die Arbeiter wäre.

Im Dezember 2019 hat der Zentrale Archäologische Rat die bereits getroffene politische Entscheidung bestätigt und sich mehrheitlich für den Bau des Bahnhofs unter Entfernung der Funde ausgesprochen. Im März 2020 wurde der entsprechende Ministerentscheid von Kulturministerin Lina Mendoni unterzeichnet.

 

Einhellige Reaktion der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der Zivilgesellschaft

Diese politische Entscheidung hat die wissenschaftliche Gemeinschaft innerhalb und außerhalb Griechenlands, Forschungsgesellschaften und internationale Institutionen sowie die Zivilgesellschaft überrascht, löste einen Sturm von Reaktionen und einen internationalen Aufschrei aus. Unter anderem forderten der Internationale Rat für Denkmalpflege (ICOMOS), Europa Nostra und die Internationale Vereinigung für Byzantinische Studien die griechische Regierung auf, dieser Lösung nicht zuzustimmen, während 200 Wissenschaftler aus der ganzen Welt und 250 griechische Akademie-Mitglieder, Professoren und ausgewiesene Wissenschaftler in einem offenen Brief eine entsprechende Bitte an den Ministerpräsidenten richteten.

Alle hoben die Einzigartigkeit des Ensembles und dessen weltweite Bedeutung hervor und wiesen darauf hin, dass dessen Authentizität und Unversehrtheit verloren gingen, wenn es entfernt und wieder installiert würde, und folglich seinen Wert als materielles Zeugnis der Vergangenheit aber auch als Faktor der kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung verlöre.

Die Reaktionen erreichten ihren Gipfel, als 2020 drei Klagen zur Aufhebung des Ministerentscheids eingereicht wurden. Eine Klage wurde von der Griechischen Gesellschaft für Umwelt und Kultur (NGO seit 1972) und von der Christlichen Archäologischen Gesellschaft (gegründet 1882) erhoben, die zweite von der Bürgerbewegung Thessalonikis zum Schutz des Kulturellen Erbes und die dritte vom Verein Griechischer Archäologen, von der Griechischen Vereinigung der Denkmalpfleger, dem Verein der Mitarbeiter des Kulturministeriums und der von ihm kontrollierten öffentlich-rechtlichen Körperschaften in Attika, Zentralgriechenland und in den Landkreisen der Kykladen, von Lesbos, Chios und Samos und vom Verein der außerplanmäßigen Archäologen.

Durch Gutachten spezialisierter Wissenschaftler von internationalem Renommee wurde bewiesen, dass die von der Attiko Metro AG bei einem anerkannten spezialisierten Büro in Auftrag gegebene Studie umfassend und umsetzbar war und alle technischen Anforderungen und Sicherheitsmaßnahmen für entsprechende öffentliche Baumaßnahmen einhielt. Es handelte sich um eine übliche Methode bei unterirdischen Baumaßnahmen, die von der Attiko Metro AG bei U-Bahnhöfen in Athen bereits angewandt worden war. Darüber hinaus wurde belegt, dass der Untertagebau des Bahnhofs weder kostenaufwendiger noch zeitraubender wäre, da es sich um eine rein technische Baumaßnahme handele, deren Kosten präzise berechnet und programmiert werden könnten. Die Auflösung eines archäologischen Raumes ist hingegen ein komplexes, außerordentlich schwieriges und anspruchsvolles technisches Werk mit vielen Unwägbarkeiten, auf das Ausgrabungsarbeiten in den darunter liegenden anthropogenen Schichten folgen, in denen man erwartet, das römische und hellenistische Thessaloniki zu entdecken.

Diese Argumente beweisen, dass der Ministerentscheid von 2020 illegal ist, da er dem Archäologie-Gesetz von 2002, den internationalen Normen und insbesondere dem Europäischen Abkommen zum Schutz des archäologischen Erbes (Valetta 1992) widerspricht, das 2005 von Griechenland per Gesetz ratifiziert wurde, in dem wörtlich ausgeführt wird, dass die Entfernung archäologischer Überreste bei großen Entwicklungsvorhaben nur ausnahmsweise geschehen soll und nur soweit der Bau des Werkes nicht ohne ihre Entfernung erfolgen kann. Denn der Eingriff ist unumkehrbar und erfolgt zu Lasten der Authentizität und der Unversehrtheit der Funde und beraubt die Bürger der Vorteile, die sich aus ihnen ergeben.

Trotz allem hat der Staatsrat (das oberste Verwaltungsgericht) im Juli 2021 mit einer hauchdünnen Mehrheit (13 zu 12) den Ministerentscheid von 2020 als rechtmäßig anerkannt.

Es folgten zwei Klagen vor dem Staatsrat gegen den neuen Ministerentscheid von 2021, durch den die Studie zur Entfernung und Wiederintegration der Funde gebilligt wurde, da sie keinesfalls die Qualität der Arbeiten sicherte und nicht die Bedingungen einhielt, die das Kulturministerium mit Ministerentscheid von 2020 festgelegt hatte.

Im Juli 2021 haben sich 316 Bürger unter Berufung auf ihre Menschenrechte an die Zivilgerichte von Thessaloniki gewandt, und bei einer großen Meinungsumfrage (Zeitung Makedonia vom 18.07.2021) haben sich 62 % der Befragten für den Bau des U-Bahnhofs unter Beibehaltung der Funde in situ ausgesprochen.

 

Eine verlorene einzigartige Chance für Thessaloniki

Bis Ende Mai 2022 sind die neuen Aufhebungsklagen vom Staatsrat noch nicht entschieden worden, während der Antrag auf Sicherheitsmaßnahmen abgewiesen wurde, was den Weg dafür ebnete, die antiken Funde von ihrem Standort zu entfernen, an dem sie siebzehn Jahrhunderte lang unbeschädigt verblieben waren.

Die Arbeiten zur Entfernung der antiken Funde haben im Juli 2021 begonnen. In einem wahnsinnigen Rhythmus, der viele Fragen hinsichtlich der Qualität der Studien und der Arbeiten aber auch der Sicherheit der Arbeitnehmer aufwirft, wie diese selbst beklagen, nähert sich das Ende der Entfernung der anthropogenen Schicht, sei es durch Entfernung oder Rückbau.

Es ist offensichtlich, dass die Bauarbeiten am U-Bahnhof bis Ende 2023 nicht abgeschlossen werden können angesichts der Äußerung des Unternehmers, dass für den Bau des Bahnhofs ab Übernahme des Geländes 24 Monate erforderlich seien, ganz abgesehen vom Testbetrieb.

Der Tanz der Millionen ist in vollem Schwung, da die beauftragte Firma wegen der Änderung der Bauweise des U-Bahnhofs Venizelou und der entsprechenden Verzögerungen bereits Entschädigungen in Höhe von vielen Millionen Euro erhalten hat und noch mehr verlangt.

Zugleich wurde die Chance vertan, ein weltweit einmaliges Ensemble zu präsentieren, das die bürgerliche Welt Thessalonikis während seiner Jahrhunderte langen Geschichte herausstellt, ein Ensemble, das Mauern, Tempel, archäologische Stätten und verstreute Denkmäler verbinden würde, ihnen einen neuen Sinn und Interpretationen verleihen und zur Selbsterkenntnis aber auch zum Wohlstand der Stadt beitragen würde.

 

(1) Informationen über die entdeckten Funde und Bilder aus: Krinio Konstantinidou und Maria Misa “Transformationen der Stadtlandschaft von Thessaloniki vom 4. bis zum 9. Jahrhundert an der Kreuzung von Decumanus Maximus und Cardo der Venizelos-Straße (Ausgrabung der Venizelos-Station – Metro Thessaloniki)”, in: Bulletin of the Christian Archaeological Society, pp. D, 41 (2020), S. 9-34.

30.5.22

AUS DEM GRIECHISCHEN VON ULF-DIETER KLEMM